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Liederabend mit Wolf Biermann
08.03.1989, 20.00 Uhr
Idar-Oberstein, Göttenbach-Aula


Nahe-Zeitung, 10.03.1989
Kein Liederabend im üblichen Sinne
"Muß dabei die Menschen sehen"
Wolf Biermann sang und erzählte aus 25 Liedermacher-Jahren in Ost und West

"Axel, mach mehr Licht!" tönte es zunächst einmal von der Bühne der Göttenbach-Aula. Wolf Biermann muß die Menschen sehen, für die er singt. Er will ihnen die Reaktion auf seine Lieder und Texte von den Gesichtern ablesen. Will nicht belehren, sondern mit seinen Zuhörern lernen.

Und von dem erzählen, was er gelernt hat, lernen mußte. Ein Liederabend mit Wolf Biermann ist mehr als das gängige Zwei Stunden-Programm mit, mehr oder weniger bekannten Songs, es ist eine last vierstündige Begegnung mit einem Menschen. der - immer noch - viel zu sagen hat

Viel "zu zeigen", wie er es selbst formuliert: "Ich will Euch jetzt ein Lied zeigen. . ." - was zunächst wie ein Versprecher klingt, wird im Laufe des Abends zum Programm.

Von jener Tauwetter-Ära in den frühen 60er Jahren, die ihn sehr an den Glasnost unserer Tage erinnert, erzählt er und warnt dabei vor verfrühter Euphorie. Sein frühes Engagement für den Frieden belegt er mit einem Song. gut 25 Jahre alt Und stößt dabei die Zuhörer auf eine dieser, kleinen Verlogenheiten: Ein Biermann (Ost) müßte eigentlich Genosse Mars« als Kriegstreiber anprangern und nicht den Mister Mars". Für einen Biermann-Zuhörer (West) allerdings...

Die Balladen vom Traktorfahrer Kalle und vom Briefträger William L. Moore geraten gar zu einem halbstündigen Extempore, zu einem großen Sittengemälde" der DDR-Gesellschaft in den 60er Jahren.

Biermann scheut sich dabei nicht vor Seitenhieben auf seine studentische Anhängerschaft" ("Die hechelten danach, daß der kleine Wolf für sie die große Sau rausläßt!), auf Kulturfunktionäre (,Nur die Liebeslieder sollte ich singen, verlangten sie.") und auf sich selbst (".. und ich sang sie.').

Das Lied vom Sieben-Tage Marsch des Postboten Moore gegen Rassen-Diskriminierung in den amerikanischen Südstaaten - heutzutage ein beliebtes Lesebuch-Stück, wie Biermann ein wenig stolz, ein wenig amüsiert erzählt - bestärkte den Liedermacher in seinem Streben, auch internationale Themen wie etwa Chile aufzugreifen.

Und manches auf den ersten Blick "Ausländische", der Bombenangriff auf Rotterdam beispielweise, wird bei näherer Betrachtung (inter)-national.

Diese Ausflüge quer durch Zeiten und ihre Lieder gelingen ohne Bruch. Biermann beherrscht sein Handwerk. kann, für den Zuhörer kaum bemerkbar, von schroffen Akkorden auf der Gitarre zu süßen Melodien übergehen. vom Singen ins Erzählen geraten, Lieder zu ihren eigenen Parodien werden lassen.

Schlitzohr und Schnodderschnautze - sind immer noch die Erkennungszeichen des heute 52jährigen. Die Zwischentöne machen's bei ihm- Nuancen waren es, mit denen man sich damals in der DDR oft verständigte. Gerade soviel, daß es für die Staatsmacht nicht greifbar war.

Kräftiger, was für Biermann nicht mit lauter, eher mit sarkastischer oder in manchen Fällen auch nur mit eindeutiger zu umschreiben ist wirken die Lieder, die in den zwölf westdeutschen Jahren entstanden sind. Es habe vom ersten Tag seiner Ausbürgerung an das neue gesellschaftliche Umfeld als sein Betätigungsfeld gesehen, sagt Biermann

Wenn er - im Gegensatz zu vielen anderen übergesiedelten DDR-Künstlern - hier und heute noch Erfolg habe' liege das nur daran, daß er nie Dissidentenmentalität pflegte- Biermann: .Die kommen in den Westen und machen sich hier zunächst einmal Luft gegen die Bonzen drüben. Dann sind sie ausgebrannt dann kommt nichts mehr." Er habe bereits drüben gegen die drüben den Mund aufgemacht hatte folglich keinen Nachholbedarf, war offen für Neues.

Die kalte, "das eigene Herz auffressende Gefühlswelt', auf die er hierzulande trat besingt er in grauen Moll-Tönen.

Doch auch ein etwas anderer Biermann hat sich in den vergangenen Jahren hier in der Bundesrepublik entwickelt. Die Lust am Fabulieren, am menschlichen Schwächen, am "Thema Nummer eins", dominiert in den neuen Liedern wird im zweiten Teil dieses Liederabends deutlich.

Daß gerade noch Weltfrauentag ist, "spornt" Biermann zusätzlich an. So schöne Lieder hat er in letzter Zeit für seine Freundin Eva Maria Hagen geschrieben: von alten Frauen, die auf ihren Körper stolz sind, vorn skandalösen Altersunterschied zwischen Sängerin und ihre n Begleiter, vom täglichen Sich-zur-Schau-Stellen eines jeden Künstlers.

Da spielt Biermann auch mal den Chauvi". Freut sich diebisch, lacht beschwichtig, wenn die Frauen im Publikum zu Murren beginnen. Er hat seine eigene Lesart dessen, was Emanzipation, was Unterdrückung der Frau, was ihre. Stellung in der Gesellschaft betrifft. Und nur allzu gern greift er die Reaktionen aus dem Publikum auf.

Denn er will lernen. Immer und von jedem. Wohl selten hat man in der Göttenbach-Aula einen Künstler erlebt der derart die Nähe seines Publikums sucht Die Pause wird zur überlangen Signier-Stunde. Auch kurz vor Mitternacht, die meisten Besucher haben sich - erschöpft nachdem sie drei Zugaben herausgeklatscht haben auf den Heimweg gemacht, beantwortet Biermann noch Fragen seiner Anhänger.

Was er denn an diesem Abend in Idar-Oberstein gelernt habe? "Daß es keinen Unterschied gibt zwischen Auftritten in der Großstadt und Auftritten in der tief in der Provinz. Ich hatte ein gutes Publikum. Die Deppen verteilen gottseidank gleichmäßig über Stadt und Land."

Klaus-Peter Müller